Der damalige Kreis Grevenbroich beschließt die Errichtung eines Gymnasiums in Dormagen-Hackenbroich.
Ein Ehemaliger blickt zurück

Vor fast 40 Jahren endete meine Schulzeit 1985 mit dem Abitur. Noch heute frage ich mich manchmal, wie mir das gelingen konnte.
Ich bin zwar immer gerne zur Schule gegangen, aber der eigentliche Lehrstoff stand nicht unbedingt im Fokus meines Interesses, obwohl wir tolle Lehrer hatten, an die ich z.T. noch heute denke (Ewig dankbar sein werde ich z.B. Hanno Vilter, der uns das Periodensystem der Elemente eisern auswendig lernen ließ – nur deshalb habe ich die Chemieprüfung im Maschinenbaustudium geschafft). Jedenfalls fühlte ich mich pudelwohl in der Klasse, wir waren eine sehr erfindungsreiche Truppe, wenn es galt, den Schulalltag mit allerlei Unfug etwas unterhaltsamer zu gestalten. Ein paar solcher Anekdoten will ich erzählen im festen Vertrauen darauf, dass mittlerweile in allen Fällen Verjährung eingetreten ist und man uns manchen Blödsinn verzeihen kann.
Zugleich danke ich allen Lehrerinnen und Lehrern für ihren nicht immer einfachen Einsatz, der zu den sinnvollsten überhaupt in unserer Gesellschaft gehört und deutlich mehr Wertschätzung verdient, als er bekommt.
Henry Mischung, München
Kreide
Gelegentlich sahen wir uns genötigt, die 5-Minutenpause mit kurzen Kreide- und Schwammschlachten auszufüllen. Oft ging dabei der sehr überschaubare Kreidevorrat viel zu schnell zur Neige. Dem galt es abzuhelfen, und bald darauf erschienen (in eigentlich auffälliger Häufigkeit) immer wieder verschiedene Gesandte bei Hausmeister Birkner, um – natürlich rein im Dienste der Wissenschaft – das kostbare Sammelgut anzufragen und es dann in der mit Schlüssel gesicherten Schatzkammer, also im Klassenschrank, anzuhäufen, für den großen Tag der ultimativen Kreideschlacht. Zur Verschleierung der Täterkreise wurden auch gerne die Nachbarklassen geplündert, wobei natürlich nur ganze, noch ungebrauchte Stücke einen echten Sammlerwert hatten.
So kam in wenigen Wochen ein sehr stattlicher Bestand von mehreren hundert nagelneuen und wurfwilligen Kreidestengeln zusammen, fein säuberlich aufgeschichtet wie die Goldbarren in Fort Knox. Weiterem Wachstum sahen wir alle zuversichtlich und entschlossen entgegen – bis zu jenem Tag, an dem einem unvorsichtigen Handlanger der Schlüssel im Schloss des Klassenschranks abbrach. Ab sofort war uns nicht nur der Zugang zu unseren Reserven verwehrt. Es war, schlimmer noch, nur eine Frage der Zeit, bis dieser Umstand dem Hausmeister zu Kenntnis gelangte, er den Schrank richten und dabei unsere Kronjuwelen entdecken und sehr sicher stehlen würde.
War dem Schrank von vorne nicht mehr beizukommen, so musste schleunigst Zugang von hinten geschaffen werden. Dazu bot sich die Lateinstunde an, in der der frankophile Verfasser seine freie Zeit dazu nutzen sollte, im Schutze des leicht vorgerückten Klassenschranks mit Bordmitteln (Taschenmesser, Münzen, Büroklammern etc.) vorsichtig dessen Rückwand abzuschrauben, während sich vorne Herr Weichsel über die unerwartet muntere Teilnahme seiner Zöglinge am Unterricht wunderte. Diese waren natürlich sämtlichst eingeweiht und nach Kräften bestrebt, alle Aufmerksamkeit vom Tatort fernzuhalten.
Gerade war die letzte Schraube aus dem Pressspan gelöst, die Rückwand gab schon einen ersten Blick auf unseren Schatz frei, da glitt dem euphorisierten und daher unachtsam gewordenen Handwerker die Rückwand aus der Hand und polterte samt unzähliger Kreidestücke laut zu Boden. Panik! Sekunden später stand Herr Weichsel über mir und rang vergeblich um eine diesen Anblick irgendwie rechtfertigende Theorie. Unerklärlich ist mir noch heute außerdem, wie ich ohne physische Auseinandersetzung seinem Zugriff entkam, war er doch für seine eher rustikale Gangart und seine Wutanfälle bekannt (ich darf hier erinnern an den Fall, als wir ihn in einem günstigen Augenblick alleine in ein Klassenzimmer einsperren konnten mit Hilfe eines außen an der Tür zwischen Türklinke und Tisch geklemmten Papierkorbes. Über das Eckfenster ließ sich sein Toben gut beobachten, bis ein unvorsichtiger Lehrerkollege den Papierkorb entfernte und samt aller Schaulustigen nur knapp der auffliegenden Tür und dem wilden Gebaren des plötzlich Freigelassenen entkam).
Unser Schatz wurde jedenfalls, in einem unwürdigen Sack verstaut, im Lehrerzimmer präsentiert mit den Worten „Das ist das Werk der 10d!“. Der Hausmeister stornierte seine Kreidebestellungen der nächsten Monate, Kreidestücke gab er trotzdem nur noch einzeln heraus und wir mussten fortan allein mit Schwämmen werfen.

Tontechnik
Der Schulgong presste unser Pennäler-Dasein gnadenlos in seinen Rhytmus. Ein perfider Architekt hatte für unser Gymnasium ersonnen, in jedem Klassenzimmer einen eigenen Lautsprecher für eben diesen Gong vorzusehen, auf dass man sich dem Takt der Galeere auch wirklich nicht entziehen konnte. Im schlimmsten Fall dauerte es 45 Minuten, bis der ersehnte Dreiklang uns von Daktylus, Sinus oder Gaius Gracchus erlöste.
Ein trauriger, aber nicht hoffnungsloser Umstand, denn – so viel Relativität hatten wir dann doch verstanden – die Zeit kann unterschiedlich schnell vergehen. Und mit freundlicher Unterstützung eines damals topmodernen Kassettenrekorders gelang es uns nach diversen Versuchen, den Gong auf Band aufzunehmen – wozu in bemerkenswerter Solidarität die ganze Klasse mal für 10 Sekunden superpünktlich mucksmäuschen still sein musste… und war! Auch die Tontechnik war so simpel nicht, denn je nach Abstand des Rekorders vom Lautsprecher war das Ergebnis übersteuert, zu leise, scheppernd, was auch immer. Aber dann gelang uns ein perfekter „Take“ – und wir waren plötzlich Herrscher über die Zeit…
Englisch bei Frau Engels. Nach 35 Minuten angespannten Wartens ist es soweit. Der am nächsten zum Lautsprecher sitzende Helfer versteckt auf seinem Schoß den Telefunken und drückt, wie vereinbart und geprobt, auf die Taste mit dem Dreieck. Es tönt „Ding – Dang – Dong“. Die Lautstärke, die Tonqualität, der ganze Sound: Perfekt. Kein Zweifel war möglich: Es hatte wirklich „gegongt“!
Mit scheinbarer Gleichgültigkeit gerät die Klasse sofort in routinierte Wallung, man packt das Butterbrot aus, reckt sich, wuchtet die Schultasche auf den Tisch, quatscht mit dem Nachbarn oder macht sich auf den Weg zur Tür. Frau Engels ist irritiert – zeigt ihre Uhr doch erst 9.25h, noch 10 Minuten Unterricht. Doch offenbar geht ihre Uhr nach – unsere Uhren jedenfalls zeigen alle 9.35h… . Vielleicht muss sie mal die Batterie wechseln?
Auf dem Gang ist es natürlich noch totenstill, aber bis ihr dämmert, dass hier etwas nicht stimmt, sind ihre Schäflein auf und davon und haben den ganzen Pausenhof für sich. Auch mal schön!

Wasser
Dienstag, 3. Stock, Fünfminutenpause. Schon seit einigen Tagen richtete sich unser Bemühen um sinnvolle Beschäftigung in den Pausen auf das, was wir leicht übertrieben als Wasserbomben bezeichneten: Mit Wasser gefüllte Luftballons, die je nach Füllgrad und Wurftalent faszinierende Effekte auslösen konnten. So waren wir z.B. sehr angetan, wenn so ein Teil auf seiner mit Gefühl gewählten Flugbahn genau vor die Füße eines Lehrers auf dem Schulhof gelangte.
Allein, die damals verfügbaren Luftballons konnten unserem Anspruch an ständiges Wachstum nicht gerecht werden. Es brauchte etwas Größeres, und dessen Moment war nun gekommen. Ein aufmerksamer Mitschüler hatte keine Mühen gescheut und einen geräumigen Altkleidersack organisiert, dessen anstehende Zweckentfremdung zur Mutter aller Bomben allseits freudige Anspannung auslöste. Ins Waschbecken damit, und Wasser rein. Mit Sorge sahen wir, dass es einige Zeit und womöglich länger als die 5-Minutenpause brauchen würde, bis der Sack mit seinen gut 60 Litern gefüllt sein würde, aber schließlich ging nichts mehr hinein. Er wurde zugeknotet und war bereit für den Abwurf. Aber wohin? Das eigentliche Ziel „Schulhof“ mussten wir sofort aufgeben, als wir versuchten, die 60kg mal eben zu heben. Es blieb also nur ein kurzer Weg, rüber zum Klassenfenster, welches im 3. Stock und zwei Etagen oberhalb der Dächer der Physikräume im Erdgeschoss lag. Auch gut. Mit allen verfügbaren Kräften wuchteten wir das quirlige Stück auf das Fensterbrett. Die vorderste Reihe direkt am Fenster bot beste Sicht auf die Zielkoordinaten und war entsprechend umkämpft. Doch auch die Partiturplätze waren lückenlos besetzt. Niemand wollte die Vorstellung „Physik in praktischer Anwendung“ verpassen.
Acht Meter unter uns schlug der Sack mit gewaltiger Wucht auf dem Dach auf! Er sprengte kleine Kieselsteine mit lautem Getöse in alle Richtungen, so auch gegen das Fenster des auf gleicher Höhe liegenden Klassenzimmers im 1. Stock. Dort wurden Horst Liebethal (Mathe und Physik) durch den Einschlag jäh aus seiner Predikt und seine Schüler aus dem Schlaf gerissen. Er öffnete das (heil gebliebene) Fenster und sah nach oben, wo sich eine Traube faszinierter Spektanten aus den Fenstern des unmittelbar darüber liegenden Klassenzimmers im 2. Stock lehnten. Diese hatten den vorbeifliegenden Sack nebst Einschlag natürlich registriert und wollten, auch mangels anwesender Lehrkraft, verständlicherweise an den Ereignissen bestmöglich teilhaben. Derlei Interesse fehldeutend spurtete Herr Liebethal sogleich hinauf in den 2. Stock, um mit einem gewaltigen Donnerwetter gegen die Unschuldsbeteuerungen der vermeintlichen Täter anzutreten. Wir waren begeistert!
Es dauerte dann doch eine ganze Weile, bis er schließlich bei uns im 3. Stock ankam. Dort war Leugnen zwecklos. Der Boden vom Waschbecken bis zum Fenster war komplett nass, und die Blicke der Beteiligten… drückten eben genau ihre Beteiligung aus. Die Sache endete unter anderem mit dem Auftrag an uns, über die Flugzeit und kinetische Energie des Sackes nebst Aufprall-Impuls zu referieren. Das war fair.
Und wenn ich heute in den Physikbüchern meiner Kinder die Formel d = ½ a t² erblicke, dann sehe ich noch immer diesen fallenden Sack.

Alle für einen
Alkohol an der Schule war für uns nie ein großes Thema. Der Reiz lag ausschließlich im Verbot desselben, der Konsum war eher eine Begleiterscheinung. Dennoch war sicherzustellen, dass für Notfälle jederzeit ein belastbarer Vorrat an geistigen Getränken verfügbar war. Dafür hatte ein talentierter Kollege einen unscheinbaren Schacht ausfindig gemacht, der über ein rostiges Fenster vom Fahrradkeller aus zugängig war. Reichlich Spinnweben tarnten das Depot und boten gleichzeitig besonders effektiven Schutz vor weiblichem Zugriff. An einem unglücklichen Tag aber wurden zwei Sommeliers inflagranti von einem Lehrer dabei ertappt, wie sie das Flaschenlager um einen wohlgereiften Lambrusco erleichtern wollten, der für irgendeine Freistunde benötigt wurde. Der gesamte Bestand wurde sogleich beschlagnahmt (mit bis heute unbekanntem Ziel…!) und die beiden Antialkoholiker erhielten den Befehl, sich in der großen Pause beim Schulleiter Darga zur Klärung weitere disziplinarischer Maßnahmen einzustellen. Wir berieten uns. Zwar war der Verlust des Bestands von deutlich dramatischerer Bedeutung als die drohende Maßregelung, aber Schadensbegrenzung war auch hier von Nöten.
9.35h, große Pause. Eine Truppe von mindestens 35 Mitwissern und -trinkern macht sich geschlossen auf den Weg ins Allerheiligste. Vor dem Büro des Rektors blockiert der Aufmarsch fast den Durchgang, unwillig fragt die Sekretärin (Fr. Pauly), was wir denn hier wollten. „Wir sollen uns hier melden wegen dem Alkohollager im Fahrradkeller“ (der Genetiv war damals noch nicht erfunden). Sie hält Rücksprache mit ihrem Chef, nicht ohne die Mannschaftsstärke der Gegenpartei zu erwähnen, die fröhlich darauf drängt, das Büro vollständig zu besetzen. Der Rektor erkennt seine aussichtslose Verhandlungsposition unmittelbar, für 35 individuelle Strafmaßnahmen hat er keine Zeit, keine Lust und evtl. nicht mal eine Legitimation. So tritt er auf den Gang und ermahnt uns „wenn das nochmal vorkommt…“. Enttäuscht drehen die ersten ab, wir hatten uns mehr versprochen. Aber der Schutz der Herde hat funktioniert, und das neue Lager wurde nie entdeckt.

Rauch
Obwohl der Chemieunterricht immer mal wieder auch hübsche Versuche zum Inhalt hatte (reines Natrium in Wasser explodiert!), war uns das im Durchschnitt doch zu wenig spektakulär. Was tun? Aus einer zuverlässigen Quelle hatte sich herumgesprochen, dass ein günstig gewähltes Verhältnis von Kalisalpeter mit Zucker – einmal entflammt – zu einer gewaltigen Rauchentwicklung führt. Ansonsten ungefährlich, schien uns dieses Material geradezu prädestiniert zur Anwendung im schulischen Kontext.
Kleinere Vorversuche im privaten Raum ergaben beachtliche Erfolge, nur die Beschaffung der Zutaten war schwierig. Eine (mangels Internet damals noch aufwändige) Recherche ergab, dass Kalisalpeter wohl zur Fleischkonservierung dienen konnte, aber eine mit dieser Sachkenntnis vorgetragene Bestellung von 2kg in einer Drogerie in Dormagen endete mit der mistrauischen Rückfrage, ob wir ein ganzes Schwein einmachen wollten. Trotz derartiger Rückschläge brachten wir aus verschiedenen Quellen dann aber doch eine stattliche Menge zusammen – genug für ein bisher unerreichtes Spektakel auf dem Schulhof.
Vier einzelne, gut gefüllte Beutel, jeder gespickt mit einer Wunderkerze als Zündschnur, fanden gleich zu Beginn der großen Pause ihren Platz in den metallischen Mülleimern rund um den Schulhof, und mit einer sorgfältig berechneten Verzögerung von rund 30 Sekunden zündeten wir – im allgemeinen Pausentrubel gottlob unerkannt – die Wunderkerzen nacheinander an. Gespanntes Warten. Der Mülleimer direkt neben dem Haupteingang meldete sich als erster und spuckte eine wirklich beängstigende Menge an Rauch aus. Nicht lange, und ein doch irritierter Hausmeister Erwin Birkner rückte mit einem Feuerlöscher an und dem armen Mülleimer zu Leibe, während alle Schüler gebannt auf das Geschehen starten. Alle? Nein, ein kleiner Kreis Eingeweihter schielte bereits herüber zum Mofa-Parkplatz, wo sich die nächste Rauchsäule in voller Pracht entfalteten sollte – und sodann pünktlichst um Aufmerksamkeit bat.
Unser Hausmeister – ausgestattet mit einem weiteren Feuerlöscher und der soliden Erkenntnis, dass Zufall hier keine Rolle mehr spielen konnte – geriet in Wut und ins Schwitzen, um so mehr, als sich gleich darauf die dritte Rauchsäule unweit seiner Dienstwohnung am Nordende des Schulhofs in die Höhe schraubte. Mit Qualm Nr. 4 bei den Sporthallen erreichte die Vorstellung ihren Höhepunkt, begeisterte Schüler rannten von einem Tatort zum nächsten, dem tobenden Hausmeister hinterher, und der Pausengong ging im allgemeinen Durcheinander völlig unter. Nur ganz wenige Schüler hatten es ganz eilig, unauffällig zurück in die Klasse zu kommen.
(PS: Alle Mülleimer haben überlebt, und außer ein paar Nerven ist nichts zu Schaden gekommen)

Schlüssel
Im Sportunterricht, 12 Klasse. Voller Tatendrank sitzen 15 Halbstarke auf der langen Bank am Spielfeldrand und warten darauf, von Sportlehrer Norbert Demond von der Leine und auf den Fußball losgelassen zu werden, um reichlich überschüssige Energien abzubauen. In dem Moment stürmen die Herren Darga, Winterwerb, Chevallier, Kisteneich (z.T. ungeliebte Oberstufenleiter) nebst Hausmeister die Halle und schleudern uns sogleich wütend ihren ungeheuerlichen Verdacht entgegen, sinngemäß wie folgt: „Jemand von euch hat Herrn Winterwerb seinen Schlüsselbund geklaut, und es gibt nur eine einzige Möglichkeit, einem Disziplinarverfahren zu entgehen, nämlich den Schlüssel noch heute und sofort wieder rauszurücken“. Im Übrigen sei der Täter gesehen worden und er erhalte die einmalige Chance, die Angelegenheit noch ohne Einschalten der Polizei… Diebstahl… bla bla…. Und um ihrem Auftritt vermeintlich die nötige Entschlossenheit zu verleihen, marschieren die Herren ohne weitere Worte wieder nach davon.
Unsere Gefühlslage ist komplex. Zunächst sind wir geehrt, dass man den Täter sofort und nur in unseren Reihen vermutet. Weiterhin dürfen wir aus dem Hinweis „Der Täter wurde gesehen“ das genaue Gegenteil schließen (wer fällt den bitte auf diese Nummer rein?). Anscheinend ist also einer der unsrigen nach diesem beachtlichen Coup unerkannt auf der Flucht. Das vorherrschende Gefühl aber ist Enttäuschung und Unverständnis: „Warum hast Du nichts gesagt?“ „Leute, wieso weiß ich von nix?“ „Wieso dreht ihr so ein Ding ohne mich?“. Nach kurzer Beratung wird dann aber Gewissheit: Ein unbekannte Dritter ist der Täter – von uns hat diesmal tatsächlich jeder eine weiße Weste. Sehr merkwürdig!
In der zweiten großen Pause nimmt mich eine zierliche Mitschülerin zu Seite, die bis dahin über jeden Verdacht krimineller Energie absolut erhaben war. Im Schutze ihrer Jacke zieht sie einen gigantischen Schlüsselbund hervor und drückt ihn mir vertrauensvoll in die Hand mit den Worten: “Den habe ich beim Winterwerb außen an seiner Tür abgezogen. Du kannst doch sicher damit etwas anfangen“. Sprach’s und verschwand. Ich war vom Donner gerührt und natürlich restlos begeistert. Dieser Schlüsselbund war so etwas wie der Generalschlüssel von Alcatraz, plötzlich in den Händen der Insassen. Das weitere Prozedere verstand sich von selbst: Belastbare Mitwisser wurden eingeweiht, und nach fachmännischer Begutachtung der Beute und diversen heimlichen (und riskanten!) Funktionstests wurden unter den Interessenten die Schlüssel verteilt. Für die Turnhalle, für den Aufzug, den Fahrradkeller, das Sprachlabor, Haupt- und Seiteneingänge, diverse Klassenzimmer, Chemie- und Physiksäle, sowie weitere Schlüssel mit noch unbekannter und daher besonders mystischer Schließgewalt. Einer der Schlüssel führte auf das Schuldach oberhalb des 3. Stocks, wo wir gelegentlich im kleinen Kreise die große Pause zubrachten und vorsichtig über den Dachrand auf das Treiben im Hof herunterschielten. Sehr aufregend!
Bis zum Abitur sah man glücklicherweise von einem Austausch der Schlösser ab, und so kam am letzten Schultag, an dem man den ausgelassen feiernden Abiturienten doch tatsächlich den Zugang zum Lehrerzimmer nicht freiwillig gewähren wollte, auch der Lehrerzimmerschlüssel zu seinem verdienten und letzten Einsatz. Heute bin ich mit einer Lehrerin verheiratet, die auch so einen Schlüsselbund hat. Der Gedanke an dessen Verlust macht jedem Horrorfilm Konkurrenz.
